Stellungnahme zum Regierungsentwurf der WTG – Novelle
aus Sicht der ambulanten Eingliederungshilfe
Franjo Köttgen, 05.07.2018
Die Landesregierung NRW konkretisiert und verschärft in ihrem Regierungsentwurf zur Novelle des Wohn- und Teilhabegesetzes die Bedingungen, unter denen betreute Wohnangebote als selbstverantwortete Wohngemeinschaften anerkannt werden. Die Wohnraumüberlassung muss demnach nicht nur rechtlich, sondern nun auch tatsächlich von Betreuungsleistungen unabhängig sein. Das Konzept einer selbstverantworteten WG und die dazu ausgestalteten Vereinbarungen müssen realistisch umsetzbar sein sowie die Lebenswirklichkeit, den Hilfebedarf und die Bedürfnisse der Nutzer/-innen widerspiegeln. Die konzeptionelle Ausrichtung der WG, ihre tatsächliche Nutzerstruktur sowie die Aussagen der Nutzer/-innen sind bei der Bewertung einer Wohngemeinschaft als selbstverantwortete zu berücksichtigen (Regierungsentwurf zu § 24 Abs. 3 u. 4). Alle diese zusätzlichen Kriterien für selbstverantwortete Wohngemeinschaften sind aus fachlicher Sicht gerechtfertigt und werden ausdrücklich begrüßt. Sie unterstützen den Anspruch aus § 25 WTG, dass selbstverantwortliche Wohngemeinschaften „frei in der Gestaltung des Zusammenlebens, der Auswahl und der Gestaltung der Räumlichkeiten für die Wohngemeinschaft und der Organisation der Betreuung“ auch gegenüber den ambulanten Diensten sind und nicht den Anforderungen des WTG unterfallen (WTG § 25 Abs. 1).
Nach dem im Regierungsentwurf unveränderten § 34 WTG gelten jedoch für ambulante Dienste in selbstverantworteten Wohngemeinschaften die Regelungen des 2. Kapitels im Allgemeinen Teil des WTG, also die §§ 4 bis 10 WTG. Ambulante Dienste, die nicht in Wohngemeinschaften tätig sind, müssen nur die Anzeigepflicht nach § 9 WTG erfüllen. In selbstverantworteten Wohngemeinschaften tätige ambulante Dienste müssen dagegen zusätzliche gesetzliche WTG – Auflagen erfüllen, die weder im Bundesteilhabegesetz noch in der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung mit den Kostenträgern gefordert und auch nicht finanziert werden. Leistungsrechtlich werden die ambulanten Eingliederungshilfedienste in selbstverantworteten Wohngemeinschaften so behandelt wie alle anderen ambulanten Eingliederungshilfedienste auch, für die es keinerlei Anreize gibt, die zusätzlichen WTG – Auflagen in Wohngemeinschaften zu erfüllen, wenn sie nicht selber solche Wohnangebote vorhalten. Die Nutzer/-innen von Wohngemeinschaften werden deswegen kaum einen anderen Anbieter von Eingliederungshilfe finden, wenn sie mit der Betreuung durch ihren WG – Anbieter unzufrieden sind. Wegen der zusätzlichen Kosten- und Verwaltungsbelastungen wird sich ein Eingliederungshilfeanbieter ohne eigenes WG – Angebot weigern, einem Eingliederungshilfeempfänger in einer WG eines anderen Anbieters seine Betreuungsleistungen anzubieten. Für die WG – Nutzer/-innen wird die tatsächliche Trennung von Wohnraumüberlassung und Betreuungsleistung nicht mehr realistisch umsetzbar. Damit ginge der Wohngemeinschaft das entscheidende und wichtigste Kriterium verloren, um als selbstverantwortete WG anerkannt zu bleiben, obwohl sich nichts bei den Nutzer/-innen, in der Ausgestaltung der Wohngemeinschaft und beim Leistungsanbieter der betreuten WG verändert hat. Durch diese gesetzliche Regelung würden die Rechte behinderter Menschen in der Eingliederungshilfe nicht geschützt, sondern sogar eingeschränkt werden.
Diese der Gesetzesintention entgegenlaufende Wirkung kann vermieden werden durch eine Änderung in § 34 Satz 1. Dort sollte es heißen: „Die Regelungen des Kapitels 2 des Allgemeinen Teils dieses Gesetzes gelten für ambulante Dienste nur insoweit, als sie ihre Leistungen in Angeboten nach § 24 Absatz 3 (statt bisher Absatz 1) erbringen.“
Dadurch können die Konkretisierungen und Verschärfungen aus dem Regierungsentwurf bezüglich der Ansprüche an eine selbstverantwortete Wohngemeinschaft vollumfänglich umgesetzt werden, was die Rechtsstellung und Selbstbestimmung der Nutzer/-innen tatsächlich stärken wird. Der Gesetzgeber würde jedoch die Auflagen in den §§ 4 bis 10 mit Ausnahme der Anzeigepflicht in § 9 für Leistungserbringer in selbstverantworteten Wohngemeinschaften aufgeben. Dies ist aus fachlicher Sicht durchaus gerechtfertigt, weil die dortigen Regelungen die Dienstleistungen und Rechte für die Nutzer/-innen in selbstverantworteten Wohngemeinschaften nicht wirksam unterstützen.
– § 10 (Dokumentationspflichten) kann in der vorgeschriebenen Form in selbstverantworteten Wohngemeinschaften überhaupt nicht umgesetzt werden, ohne Grundrechte der Nutzer/- innen zu verletzen. In selbstverantworteten Wohngemeinschaften besitzen die Nutzer/-innen das Hausrecht, der gesamte Wohnraum gehört zu ihrer Privatsphäre. In solchen Wohngemeinschaften gibt es keine Diensträume für die Leistungserbringer, die dort weder ein Zutrittsrecht noch irgendeine Gestaltungsmöglichkeit gegen den ausdrücklichen Willen der betreuten Mieter/-innen haben. Trotzdem ist der private Wohnraum einer WG Ort der Leistungserbringung, in dem die Leistungserbringer nach § 10 Abs. 2 Teile ihrer Dokumentation zur Prüfung durch die Aufsichtsbehörde vorzuhalten haben. Dies kann kein Leistungserbringer gewähren, ohne das Selbstbestimmungsrecht und die Privatsphäre der Nutzer/-innen zu verletzen.
– Andere Regelungen in den §§ 4 bis 10 sind in der Eingliederungshilfe irrelevant, weil sie zwar in der Pflege bedeutsam sind, an der Realität wie an den gesetzlich bestimmten Auftrag der Eingliederungshilfe aber vorbeigehen. Als Beispiele seien § 8 genannt (In der Eingliederungshilfe besitzen die Leistungserbringer keinerlei Möglichkeiten zu freiheitsbeschränkenden und freiheitsentziehenden Maßnahmen.) und § 4 Abs. 4 (Der Schutz vor Infektionen und die Gewährleistung von Hygieneanforderungen tangieren nicht die Arbeitsbereiche der Eingliederungshilfe.).
– Die meisten Regelungen in den §§ 4 bis 10 werden für die Eingliederungshilfe schon durch übergeordnete Bundesgesetze – SGB II (gedeckelte Übernahme der Kosten für die Unterkunft), SGB IX (Bundesteilhabegesetz) bzw. XII – sowie entsprechende Verordnungen und vertragliche, bindende Vorgaben der Kostenträger geregelt. Als Beispiele seien hier genannt:
§ 4 Abs. 7 (persönliche und fachliche Eignung der Beschäftigten) und Abs. 12 (Förderung der Selbstbestimmung), § 5 (Teilhabe am Leben in der Gesellschaft).
– Dabei wird teilweise der gleiche Sachverhalt durch das WTG abweichend geregelt. Nach § 4 Abs. 8 WTG ist für die Anerkennung als Fachkraft eine mindestens zweijährige einschlägige Berufserfahrung nötig. Den Kostenträgern der Eingliederungshilfe genügt jedoch eine einjährige Berufserfahrung, diese muss sich aber auf die konkrete Zielgruppe beziehen. Die Berufserfahrung z. B. bei Menschen mit geistigen Behinderungen qualifiziert also in der Eingliederungshilfe nicht zur Fachkraft für Menschen mit seelischen Behinderungen. Zeiten einer Teilzeitbeschäftigung mit der Hälfte der regulären Arbeitszeit werden nach WTG im vollen Umfang angerechnet, durch die Kostenträger der Eingliederungshilfe aber nur anteilig.
Selbstverantwortete Wohngemeinschaften werden nur von einer Minderheit der Leistungserbringer angeboten. Für diese ist das Vorhalten von Wohnraum für selbstverantwortete Wohngemeinschaften in der Eingliederungshilfe kein lukratives Geschäftsmodell. Diese Wohngemeinschaften ermöglichenden den Nutzerinnnen und Nutzern ein selbstbestimmtes Leben außerhalb eines institutionellen Rahmens und mildern den Wohnraummangel und die erhöhte Gefahr der Obdachlosigkeit für Menschen mit Behinderungen. Im Sinne der Selbstbestimmung der Nutzer/-innen und ihrer Unabhängigkeit von den wenigen Anbietern von Wohnraum für Menschen mit Behinderungen sollten die Nutzer/-innen in ihrer Wahl des Betreuungsanbieters frei sein. Ihre Wahlmöglichkeit wird aber entschieden eingeschränkt, wenn sie nicht unter allen Leistungsanbietern wählen können, sondern bei der Betreuung auf die Leistungsanbieter mit Wohnangeboten beschränkt werden. Daher sollten die Betreuungsanbieter ohne eigenes Wohnangebot im WTG den Betreuungsanbietern mit Wohnangeboten gleich gestellt werden.